Nachmittags bei Barbara
Fast drei Jahre lang, von Mitte 2021 bis Ende 2024, besuchte ich Barbara und Gerhard, die Eltern einer Bremer Freundin. In Achim, einer Kleinstadt im Landkreis Verden, wohnte das Ehepaar am Rande eines Naturschutzgebietes in seinem gastlichen Haus, das mit vielen Erinnerungsstücken an ein reich erfülltes, gemeinsames Leben ausgestattet war. Als meine wöchentlichen Besuche begannen, waren beide Eheleute neunzig Jahre alt. Barbara war Lehrerin im Schuldienst gewesen und im Alter erblindet. Nun hatte sie sich eine Besucherin gewünscht, die einmal in der Woche zu ihr kommen und ihr vorlesen würde. Gerhard war Rektor der Realschule und Mitglied im Kreistag von Verden gewesen. Seine Leidenschaft galt der Musik. Im Wohnzimmer stand der Flügel, an dem er oft gespielt und auch komponiert hatte. Seit sich bei ihm eine Demenz eingeschlichen hatte, blieb der Flügel meistens stumm und kam nur noch selten zur Geltung.
Dienstags machte ich mich um die Mittagszeit auf den Weg zu ihnen. Vom Bahnhof Achim erreichte ich nach einem zehn-minütigen Fußweg, hinauf in die Stadt und von dort hinunter in Richtung Marsch, vorbei an der mittelalterlichen Sankt-Laurentius-Kirche, das Haus der Familie. An der Tür empfing mich Gerhard. Und manchmal, während wir noch ein paar Minuten auf seine Frau Barbara warteten, die ihren Mittagsschlaf gehalten hatte, fragte er unvermittelt: „Möchten Sie vielleicht etwas hören?“ Er setzte sich an den Flügel, um mit einer Improvisation und einer kleinen Melodie, Mozart oder Bach, die Wartezeit zu überbrücken und den Auftakt für den Nachmittag zu geben. Alene, die freundliche Haushaltshilfe, servierte Kaffee und Kuchen. Dann begann unsere Lesezeit.
Barbara war eine aufmerksame und anspruchsvolle, oft auch nachhakende Zuhörerin. Von Alexander Puschkins „Schneesturm“ über Anton Tschechows Novellen und Honoré de Balzacs Erzählungen bis zu den modernen Schriftstellern und Schriftstellerinnen und auch einmal einer Satire von Ephraim Kishon oder Humoreske von Joachim Ringelnatz erstreckte sich unser Repertoire in den fast drei Jahren. Der Stoff ging uns nicht aus und es wurde auch dank Barbaras Enthusiasmus, ihrem Staunen und oft ansteckend herzhaftem Lachen, wenn die Geschichte eine spezielle Pointe hatte, nie langweilig. Ein Nachmittag in der Woche gehörte uns und war erfüllt von reiner Freude an der Begegnung und der Literatur. Gerhard setzte sich öfters zu uns. Und wenn in einem Roman oder einer Geschichte ein bekanntes Musikstück genannt wurde und eine Rolle spielte, wurde auch er aufmerksam und hellhörig. Dann vernahm ich plötzlich, wie er eine Melodie pfiff oder den Takt auf der Tischplatte klopfte. Besonders rührend, wenn er sich dann zu seiner Frau beugte und liebevoll besorgt fragte: „Verstehst du das denn?“ Und sie darauf etwas belustigt und gespielt empört: „Aber na-tür-lich, Gerhard!“
Ich las einmal einen Auszug aus meiner Biografie der Schauspielerin Maria Orska, die in den 1920er Jahren ein Star des Berliner Theaters gewesen war und während der Stummfilmzeit auch mit Hans Albers gedreht hatte. Vertieft ins Vorlesen, hatte ich nicht gleich gemerkt, dass Gerhard sich erhoben und unsere Tischrunde verlassen hatte. Plötzlich füllten Klavierklänge den Raum, und ich hielt inne. Da saß er an seinem geliebten Flügel, griff in die Tasten und spielte mit Schwung das Evergreen. „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ – hinreißend, unvergesslich. Nach einem Moment der Überraschung stimmte Barbara leise singend mit ein. Tränen schimmerten in ihren Augen.
Gerhard Steinwede starb im Juli 2024. Seine Frau Barbara starb vier Monate später, im November.