Im Lauf des Tages
Erster Lauf. Am Morgen. „Hey cool, Mann …“
Montagmorgen, kurz vor acht Uhr im REWE-Markt „Am Hulsberg“. Beim kleinen Einkauf gerate ich in den Pulk von Schülern und Schülerinnen der benachbarten Oberschule, die sich hier für ihr Pausen-Frühstück mit Süßigkeiten, Knabbereien und Energy-Drinks eindecken. Mit einem Stück Butter und einem Glas Konfitüre für mein eigenes Frühstück verlasse ich den Kassenbereich. Draußen neben dem Eingang hantieren zwei Jungs, geschätzte zwölf Jahre alt und vielleicht siebte Klasse. Während der erste sein Fahrrad aufschließt, verstaut der zweite eine Tüte Donuts und eine Dose Cola im Rucksack. Plötzlich sagt dieser zu seinem Kumpel: „Fahr du schon vor, mir haben sie gestern mein Rad geklaut.“ Der Freund schaut auf und staunt: „Hey cool, Mann, und wer war das?“
Zweiter Lauf. Vormittag eins. „Freie Frau“
Zwei Stunden später, kurz vor zehn Uhr, in der Hausarztpraxis „Hamburger Straße“. Vor mir an der Rezeption wird eine neue Patientin angenommen. „Ja … gut … Sie sind … Frau … von … eh … Fritsch …“, spricht die Mitarbeiterin vor sich hin, während sie die Kontaktdaten der Neuen in ihre Patienten-Datei eingibt und speichert. „Freifrau von …“, korrigiert die vor mir Stehende die emsig tippende Angestellte. Die spricht ohne von ihrem Rechner aufzublicken, unbeirrt weiter: „Frei … okay … verstehe … kein Corona … sehr gut … können durchgehen … Sprechzimmer zwei ...“
Dritter Lauf. Vormittag zwei. „Vorher sagen …“
Dieselbe Praxis, eine halbe Stunde später. Nachdem eine Assistentin sich mehrmals vergeblich um eine Blutentnahme bei mir bemüht hat, bricht sie die Prozedur ab. Die kurz aus einem Gespräch hinzu gerufene Ärztin erkennt und erklärt mir das Problem. Ich hätte Rollvenen und müsste noch einmal wiederkommen, dann würde sie selbst die Punktion vornehmen. Zwei Minuten später kommt die Mitarbeiterin mit einem neuen Termin für den folgenden Tag. „Rollvenen“, stöhnt sie und entlässt mich mit einem vorwurfsvollen Blick, „das hätten Sie vorher sagen sollen.“
Nachmittag. Kein Lauf. Pause …
Vierter Lauf. Abend. Lesende Hunde: „Er guckt da gerade …“
Am Abend noch ein kleiner Gang durchs Wohnquartier. Vor manchen Eingängen und auf Gehwegen haben Bewohner Kartons und Einkaufstaschen abgestellt, die mit aussortierten Dingen „zum Mitnehmen“ oder „zum Verschenken“ gefüllt sind und gelegentlich zum Anhalten und Begutachten des Angebotenen einladen. Eine breit gefächerte und oft pittoreske Waren-Palette, die vom Überfluss in den Häusern der Sachspender oder auch von aufgegebenen Sammel-Leidenschaften zeugt. Altes Kristall, Keramik und Geschirr, Figürchen und Gebasteltes, Spitzendeckchen, Gehäkeltes, jahreszeitliche Deko-Artikel und sonstiger Krimskrams suchen auf diese Weise neue Besitzer.
Heute hat jemand an der Straßenecke „Rennstieg“ einen Karton mit ausgelesenen (oder ungelesenen) Werken rausgestellt. Bücher wecken meine Neugier, da werfe ich gern mal einen Blick rein. Vor mir zieht eine Spaziergängerin zwei zottelige und etwas widerspenstige Hunde an der Leine hinter sich her. Bei der Bücherkiste halten sie an, und ich sehe, wie eines der Zotteltiere die Schnauze in den Karton steckt und an dem Inhalt schnuppert, schnüffelt und sabbert. Auf dem handtuchbreiten Gehweg ist kein Vorbeikommen an dem Trio, und notgedrungen warte ich einen Moment. Ungehalten dreht sich da die Hundemutti um. „Sie sehen doch“, blafft sie mich an, „er guckt da gerade.“ Eben stoppt an der Ampel der Verkehr, und ich wechsel schnell durch die Kette der haltenden Fahrzeuge hindurch auf die andere Straßenseite.