„Haben Sie Kinder?“
Unterwegs mit der Linie 10.
Freitagabend auf dem Rückweg vom Besuch bei einer Bekannten, die seit Kurzem im Stadtteil Oberneuland in einem Seniorenstift lebt. An der Endhaltestelle Sebaldsbrück wechsle ich vom 33er Bus in die Straßenbahn der Linie 10. Vorbei an den Industrie-Bauten von Mercedes-Benz, Atlas Elektronik und dem „Einkaufspark“ Kaufland geht meine Fahrt von hier aus weiter in Richtung Innenstadt. Arbeiter, die von ihrer Schicht kommen, und andere Mitfahrer dösen matt in den Sitzen oder beschäftigen sich mit ihren Smartphones.
Drei Haltestellen und vier Minuten später, am Bahnhof Sebaldsbrück, steigt eine Frau mit zwei Kindern ein. Die beiden Jungs, geschätztes Alter 10 und 12 Jahre, halten ihr neues Spielzeug stolz an die Brust gedrückt. Es sind Maschinen-Gewehre, billige Imitate aus grauem Kunststoff, von der Spielzeug-Industrie für Kinderzimmer und Spielplatz fabriziert und beworben. Die beiden Jungs hechten auf die gepolsterten Sitze, halten ihre Plastik-Waffen ans Fenster und „schießen“ ausgelassen, indem sie Knallgeräusche ausstoßen, auf den Verkehr, der draußen auf dem Asphalt, parallel zu den Schienen der Straßenbahn fließt.
Ich beobachte die durch ihr Toben aufgekratzten und auf ihren Sitzen zappelnden Jungs. Ein älterer Mann, Rentner mit Baseballkappe, freut sich über das befremdliche Spiel, reckt den Daumen und lacht. ‚Blödmann‘, denke ich, und In diesem Moment schaut einer von den beiden Jungs auf. Sofort ändert er den Lauf seines Spielzeug-Gewehrs, kneift ein Auge zu einem Schlitz und nimmt mich ins Visier. „Hey, du spinnst wohl, hör sofort auf“, entfährt es mir. Das ist kein Spiel. Ich fahre auf, da hält die Bahn mit einem Ruck. Der jähe Schub drückt mich in den Sitz zurück und die Türen öffnen sich. Die Mutter „wacht auf“, steckt hastig ihr Smartphone ein. Die Jungs folgen ihr und „schießen“ draußen auf dem Gehweg weiter. Mein Gegenüber mit der Baseballkappe klopft an die Scheibe, winkt ihnen nach und lacht, bis ihn der Hustenkrampf packt. Und für mich gilt jetzt: weg von hier und raus! Ich greife meine Tasche und dränge zum Ausgang. Der nächte Halt, die automatische Tür öffnet sich wieder. Einen Moment später stehe ich draußen an der Trasse der Tram.
Eine Frau, die mit mir ausgestiegen ist, mustert mich abschätzig. „Das war nicht recht“, sagt sie, und ich stutze. Was, meint sie, war ‚nicht recht‘? – „… dass Sie denen den Spaß verdorben haben“, setzt sie nach, „das sind Kinder, nette Jungs, und ein harmloses Spiel. Haben Sie Kinder?“ Ich bin perplex, zum zweiten Mal in kurzer Zeit. Was hat meine berechtigte Abwehr mit eigenen Kindern zu tun!? „Das spielt keine Rolle und geht Sie nichts an“, entgegne ich kühl und gefasst. „Ach, ihr Leute immer mit eurer Moral“, spottet die Frau, und jetzt fühle ich, dass meine Kehle eng wird und der Zorn in mir aufsteigt. „Aber wo war denn die Mutter?“ kommt mir da ein junger Mann zuvor, der ebenfalls ausgestiegen war und sich an die Frau wendet. Ach ja, die Mutter, denke ich. Sie war da und war nicht da. Aber ich sage nichts mehr, sondern bin froh, dass ich durch die Verzögerung rasch einen Gang runter schalten kann. Ich wende mich ab, um erleichtert und zu Fuß den Rest des Heimwegs zu nehmen.