Die Eule und andere Berühmtheiten
Die Eule war ein etwa ein Meter hohes Wandgemälde. Geschaffen von einem Lünener Künstlerpaar nach der Vorlage einer Schülerin aus dem Mal- und Zeichenkurs, dominierte sie die Pausenhalle unseres Mädchengymnasiums, das nach den Geschwistern Hans und Sophie Scholl, den beiden bekanntesten Mitgliedern der Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, benannt war. Unsere Schule, die im Juni 1958 eingeweiht wurde, war nach den Plänen von Hans Scharoun (1893-1972), dem Vertreter einer organischen Bauweise (nach den Prinzipien der Bauhaus-Architektur) errichtet worden. Seit 1985 unter Denkmalschutz stehend, gilt sie als ein bedeutendes Beispiel moderner Architektur. Eine von den zahlreichen Besonderheiten des Gebäudes ist die Aula, die sich durch ihre äußere Erscheinung in der Form eines Zeltes mit einem pagodenartigen Dach aus dem gesamten Komplex heraushebt. Sie wurde als ein exponiertes Forum immer wieder auch für außerschulische, öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte, Lesungen und Empfänge geöffnet und genutzt.
Unsere Schülerzeitung „Die Eule“, ein handliches und liebevoll gestaltetes kleines Magazin, war von engagierten Schülerinnen unter der Leitung eines Fachlehrers ins Leben gerufen worden. Es hatte sich rasch zu einem nicht nur von der eigenen Schulgemeinschaft anerkannten und verbreiteten Medium entwickelt, das viermal im Jahr erschien. Als ich in die Oberstufe kam, „amtierte“ Kristina, der heimliche „Star“ unserer Klasse, als Chefredakteurin. Sie schrieb die Leitartikel, reservierte sich die interessanten Themen und entschied über die Annahme (oder Ablehnung) der von Mitschülerinnen eingereichten Beiträge.
Es war im Oktober 1968, am ersten Tag nach den Herbstferien, als Kristina mich und meine Freundin Ingrid morgens vor dem Unterricht abfing. Am Freitag fände wieder eine Lesung in der Aula statt. Sie selbst sei leider „verhindert“. Wir beide, Ingrid und ich, sollten hingehen und einen Bericht für die „Eule“ schreiben. „Klar, das machen wir doch gerne“, stimmte meine Freundin spontan und zugleich erstaunt über die unerwartete Ehre zu. „Und wer liest am Freitag bei uns?“ wollte ich wissen. „Keine Ahnung, das werdet ihr sehen“, winkte Kristina ab. Und froh, so rasch zwei Willige gefunden zu haben, wandte sich wieder wichtigeren Dingen zu.
Freitagabend war unsere berühmte Zelt-Aula bis auf den letzten Platz gefüllt. Als Ingrid und ich eintrafen, erfuhren wir, dass die Hauptperson die Schauspielerin und Regisseurin Hanne Hiob (1923-2009) war. Die Tochter des Dramatikers Bertolt Brecht würde aus Stücken ihres Vaters lesen und über sein Leben und Werk sprechen. Meine Freundin und ich waren begeistert: Welch hoher Besuch in unserer kleinen Stadt! Und wir beide durften darüber schreiben! Es wurde ein einmaliger, unvergesslicher Abend mit einer wunderbaren Rezitatorin. Nach dem anschließenden Publikums-Gespräch und großem Applaus schafften Ingrid und ich es als Erste an das Lesepult, wo wir Frau Hiob noch ein paar Fragen stellen durften und jeweils ein Autogramm empfingen.
Den Sonntag verbrachte ich, auf der Schreibmaschine hämmernd, in meinem Zimmer. Am Nachmittag kam Ingrid dazu. Wir diskutierten, formulierten, schrieben und korrigierten, bis uns die Köpfe rauchten und wir endlich zufrieden waren. Am Montag händigten wir Kristina unsere Besprechung über die Lesung aus. „Gucke ich mir später an“, erklärte sie gnädig, während sie das Manuskript in ihrer Mappe verstaute. Und wir hörten sie murmeln: „Hätte ich gewusst, dass solch eine Berühmtheit …“ Der Ärger über die verpasste Chance stand ihr ins Gesicht geschrieben. Ingrid grinste und deutete auf mich: „Sie wird auch mal eine Berühmtheit“, bemerkte sie vergnügt. Kristina verzog den Mund. „Wohl kaum“, war alles, was sie noch herausbrachte. Dass Ingrid und ich daheim zwei Autogrammkarten wie einen Schatz hüteten, behielten wir für uns.
Die neue „Eule“ erschien im Dezember 1968, rechtzeitig vor den Weihnachtsferien. Unsere Besprechung war darin nicht zu finden.