Wohin die Bäume wachsen.  

In dem Monat Februar, in dem ich zehn Jahre alt wurde, fanden die Aufnahmeprüfungen für das Gymnasium statt. An fünf Tagen einer Woche wurde ich mit fünf weiteren Schülern und Schülerinnen aus meiner Volksschul-Klasse jeweils in einem bestimmten Fach getestet. Am letzten Tag schloss das Verfahren mit einer Bildbetrachtung und einem Aufsatz ab. Zwei Wochen später erhielten alle von uns froh und erleichtert die amtlichen Zusagen. Mein Aufsatz hatte außerdem eine besondere Auszeichnung erhalten. „Dann wirst du mal eine Schriftstellerin“, scherzte unsere Klassenlehrerin, als sie mir den Brief an meine Eltern aushändigte. Ich glühte vor Stolz und platzte daheim beim Mittagessen sofort mit dem Lob heraus. Meine Mutter runzelte die Stirn und bemerkte leise tadelnd: „Dann pass nur auf, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen.“ Sie missbilligte es, wenn eines ihrer Kinder, wie sie meinte, sich wichtig machte. Meine beiden Brüder kicherten und stießen sich unter dem Tisch an, was meinem Vater nicht entging. „Ihr müsst nicht über eure Schwester lachen“, wies er sie zurecht, „aus der wird noch mal was.“

Nach den Osterferien begann ein neuer Abschnitt mit meiner Aufnahme in die Sexta des städtischen Mädchengymnasiums. Alles war interessant und aufregend für mich. Und ich schwärmte für unser „Fräulein“, die neue Lehrerin. Sie wurde für uns Schülerinnen eine Vertrauensperson. „Stimmt es“, fragte ich sie einmal, „dass Bäume nicht in den Himmel wachsen?“ Sie sah mich erstaunt an und lachte. „Natürlich wachsen sie in den Himmel“, antwortete sie, „wohin denn sonst?!“ Es gab in der Klasse immer auch die üblichen Eifersüchteleien, die kleinen Zänkereien und Nickeligkeiten, wie hätte es anders sein können?! Doch das Wichtigste war, dass wir zusammenhielten und dass aus uns allen etwas geworden ist.

Erschienen: Hastedter Gemeindebrief Herbst 2024. Thema: Wachsen und Werden.