Wege nach Rom 

Im Juli 1970 besuchte ich mit ein paar Freundinnen aus der Abschlussklasse unseres Geschwister-Scholl-Mädchengymnasiums in Lünen noch einmal unseren Latein- und Klassenlehrer, der uns mit Strenge, aber auch mit viel Geduld und Verständnis durch die vergangenen Wochen zum Abitur geführt hatte. Nun kam der Abschied von Schule und Elternhaus, unsere Wege würden sich trennen. Aufbruchsstimmung lag in der Luft und sorgte für eine heitere und gelöste Stimmung. Doch an diesem Nachmittag mit Kaffee und Erdbeerkuchen im Garten bei „Lehrer Rudi“, wie wir ihn nannten, wirkte eine von uns seltsam bedrückt, und schließlich rückte Rosemarie mit der Sprache heraus: Ihr langjähriger Freund, mit dem sie die Zukunft geplant hatte, war kürzlich aus der Kirche ausgetreten. (Immerhin war er so „rücksichtsvoll“ gewesen, mit der Mitteilung an sie bis nach ihrer Reifeprüfung, wie es damals hieß, zu warten.) Rosemaries Berufswunsch stand seit Langem unverrückbar fest. Sie wollte an der Universität Bochum Theologie studieren und Pastorin werden. Doch dieses Ziel schien mit einem konfessionslosen und atheistischen Mann an ihrer Seite mit einem Schlag ganz ausgeschlossen. Rosemarie schaute unglücklich in die Runde, und wir Freundinnen schwiegen ratlos, während Lehrer Rudi die Nachricht eher gelassen nahm. „Ach Rosi“, winkte er in seiner ruhigen und bedächtigen Art ab, „viele Wege führen nach Rom.“

Dreißig Jahre später trafen viele von uns Ehemaligen auf einer Jubiläumsfeier in unserer alten Schule wieder zusammen. Was war aus uns, den damals so jung und hoffnungsvoll ins Leben Gestarteten, geworden? Viele Wege und auch manche Umwege hatten wir zurückgelegt, um ein Ziel zu erreichen. Es gab an dem Tag unzählige Gespräche, einen fröhlichen Austausch und überraschende Erkenntnisse. Und eine Frage stand dabei im Raum: Hatte jemand etwas von Rosemarie gehört? Unsere Freundin Gudrun nickte; auf ihre Nachforschungen hin hatte sie kürzlich Post aus Afrika bekommen. Aus Afrika?! Jäh verstummten die Gespräche und alle hörten gespannt zu, was Gudrun erfahren hatte und nun erzählte: Rosemarie hatte nach dem Abitur einige Semester Theologie und danach Medizin studiert, war in einen christlichen Orden aufgenommen und nach Tansania entsandt worden, wo sie in einem Hospital arbeitete, das zur evangelisch-lutherischen Kirche des Landes gehörte. Wir alle staunten über diese schöne Gechichte und Gudrun lächelte. „Viele Wege führen nach Rom“, schloss sie die Erinnerung an unsere  Freundin, die unbeirrt ihren Weg gegangen war.

Erschienen: Alt-Hastedter Gemeindebrief Sommer 2025. Thema Wege.