„Nicht deine Schuld, Mama.“  

Ostersonntag, morgens um halb zehn bei der Hastedter Kirche. Während aus dem Inneren des neugotischen Gebäudes Orgelklänge durch die dicken Backsteinmauern nach außen dringen, schließe ich eilig mein Fahrrad an einen Bügel. Beim Eintreten empfängt mich der österliche Choral. „Man singt mit Freuden vom Sieg …“ Die kleine Kirche ist heute gedrängt voll. Mit Mühe finde ich noch einen Platz in der letzten Bank neben einem Herrn, der der bald einsetzenden Liturgie und der darauf folgenden Predigt selig verklärt, mit Inbrunst und ausbordenden Gebärden, folgt. Immer wieder fährt er von seinem Platz auf, reißt die Arme hoch oder bekreuzigt sich übermäßig. Als er mich dabei zum wiederholten Mal anrempelt, verlasse ich die Sitzreihe und folge dem Lauf des Gottesdienstes an eine hintere Säule gelehnt. Nachher, beim Auszug aus der Kirche, kommt meine Nachbarin Jutta auf mich zu. „Kanntest du den auffälligen Herrn? Wer war das?“ erkundigt sie sich. „Ein eifriger Sucher“, antworte ich salopp und wir lachen. „Frohe Ostern“, wünscht Jutta und wir verabschieden uns.

Am Nachmittag kommen mein Sohn und seine Freundin zum Osterkaffee. „Dein Banknachbar hat dir wohl nicht gefallen“, bemerkt Ibrahim. Er grinst und erklärt auf meinen fragenden und verdutzten Blick: „Ich war spät dran, habe auf der Empore gestanden und bin vor den Abkündigungen gegangen.“ Ach so … „Da saß ein seltsamer Heiliger, der mich boxte, ich bin davor geflüchtet“, bestätige ich seine Beobachtung. „Du hast ihn nicht erkannt?“ wundert sich mein Sohn.  „Das war doch der Gerd, mein alter Lehrer von der Lessingschule.“ Jetzt bin ich ehrlich überrascht. Bei diesem Lehrer, der mehr ein Kumpel als eine Autorität für seine Schüler war, hatte ich damals als  Elternsprecherin „amtiert“. Ibrahim nickt. „Und er hat dich angehimmelt, vergeblich, das wusste übrigens die ganze Klasse“, ergänzt er vergnügt. Seine Freundin Carolin strahlt mich an, und ich kann nicht verhindern, dass ich aus Verlegenheit erröte. „Macht nichts, Mama.“ Ibrahim reicht mir seinen Teller, während ich mit dem Tortenheber ein Sahnestück über den Tisch balanciere. „Übrigens gehört er nicht zur Gemeinde, sondern ist jetzt bei den Freien Evangelikalen.“ – „Bei den … Freien … was??“ Ich fahre irritiert auf, das Tortenstück gerät jäh in Schieflage und landet – Quel Malheur! – auf Ibrahims weißem Hemdsärmel. Carolin greift rasch eine Serviette und kümmert sich um die Bescherung. Ibrahim lacht. „Es ist nicht deine Schuld, Mama.“