Der Dozent
Wir waren eine kleine und motivierte Gruppe von Studentinnen und Referendarinnen des Fachbereichs Sozialwissenschaften, die über einen Aushang am Schwarzen Brett der Universität zusammen gekommen waren. Eine karitative Einrichtung suchte Freiwillige für ein neu installiertes Krisentelefon, dem sich Kinder und Jugendliche mit ihren Sorgen und Nöten anvertrauen konnten. Es fühlte sich gut und richtig an, für ein soziales Projekt zwei Stunden von unserer wöchentlichen Freizeit zu geben und ganz nebenbei durch die Teilnahme auch eine zusätzliche Qualifikation zu erlangen. Zur Einführung und Begleitung durch das besondere Ehrenamt wurde eine Schulung angeboten, die sich über jeweils einen Abend in den nächsten sechs Wochen erstrecken sollte. Der Kursleiter, der sich uns vorstellte, war ein älterer Herr, ein aus dem Ruhestand reaktivierter Dozent. Freundlich und engagiert vermittelte er uns durch kurze Vorträge, Rollenspiele und Impulse so wichtige Themen wie Aktives Zuhören, Anonyme Beratung und auch Herausforderndes Verhalten, das uns am Telefon „blühen“ könnte. Wobei sein eigenes Verhalten gelegentlich auch eine Herausforderung durch seine etwas betuliche und altväterliche Art wurde, wenn er uns junge Frauen als seine „Mädels“ oder „Fräuleins“ titulierte und die eine oder andere Stunde durch ein etwas schwaches Witzchen aufzulockern suchte.
Nach dem Ende des kleinen Lehrgangs erschien die Institutsleiterin, um uns die Zertifikate auszuhändigen und von jeder ein Feedback zu erfragen. „Es war interessant und lehrreich“, antwortete meine Freundin Karin, „obwohl … der Herr … manchmal …“ Sie brach ab und zögerte, die Leiterin wartete. „Der Dozent war so ein bisschen old school“, half ich meiner Freundin aus der Verlegenheit, und jetzt lachte die Leiterin. „Das verstehe ich“, bestätigte sie uns, „und Sie verstehen bestimmt, dass der nette Pensionär bei uns eine Kraftquelle findet, weil er noch gebraucht wird und sich mit seinen Kenntnissen einbringen kann.“ Karin und ich sahen einander an und nickten. Bedeutete es nicht auch für uns eine Kraftquelle, mit den neu erworbenen Fähigkeiten künftig etwas Sinnvolles und Nützliches zu tun?!
Erschienen: Hastedter Gemeindebrief, Thema Kraftquellen. Winter 2024/25