„Wo der Tag beginnt ...“ 

Ein Besuch bei IKEA 

Beim Aufräumen und Herrichten meines Gästezimmers für eine Freundin, die für das Wochenende ihren Besuch angekündigt hat, fällt mir ein verstaubter Karton in die Hände. Mit buntem Papier beklebt und mit dem Schriftzug „Flohmarkt“ versehen. Neugierig öffne ich das vergessene Kistchen. Ich werde durch den Inhalt von Erinnerungen an vergangene Jahre eingeholt, in denen japanische Studenten und Studentinnen, die in Bremen Sprachkurse besuchten, während der Sommermonate bei mir zu Gast waren.

Gäste bringen Geschenke mit, und so hatten sich damals im Laufe einiger Jahre Souvenirs aus Osaka, Kyoto, Kawasaki und anderen japanischen Städten in meinem kleinen Haus angesammelt. Liebevoll und von Hand gearbeitete Deckchen und Geisha-Püppchen, hauchdünne Teeschalen, winzige Sake-Gläser, goldglänzende Löffelchen, Fächer mit Motiven vom Heiligen Berg Fudschijama oder mit rosa Kirschblüten-Zweigen bemalt. Portemonnaies und Täschchen aus glänzendem Kimono-Stoff, Mikado-Stäbchen und fantasiereiches Holzspielzeug. Dazu gerahmte Kaligrafien und winzige, filigrane Origami-Kunstwerke. Eine Zeitlang hatten die hübschen Andenken meine Fensterbänke und Regalböden geziert, bis ich eines Tages, Wochen nach der Abreise der letzten Gast-Studentin, die Mitbringsel in einen Karton verstaut und in das inzwischen verwaiste Gästezimmer verbannt hatte, wo sie bald darauf meinem Auge und Gedächtnis entschwunden waren.

Und jetzt? Was tun mit den erinnerungs-trächtigen und leider übermäßig vorhandenen Sächelchen? Natürlich bringe ich es nicht übers Herz sie einfach wegzuwerfen. Während ich noch etwas ratlos über meiner Wunderkiste hocke, klingelt es an der Tür. Meine Freundin Hedda wedelt mit einem Prospekt in der Hand. Das bekannte schwedische Kaufhaus bietet  Rollcontainer fürs Büro und Arbeitszimmer an, handlich und praktisch unter die Arbeitsfläche zu schieben und mit insgesamt fünf Schubfächern zum Ordnen und Stapeln von Schriftstücken und Schreibutensilien. Nun möchte Hedda mich einladen, sie an diesem Morgen auf eine Spritz- und Einkaufstour zu begleiten. Beim Anblick des Sammelsuriums in meinem Gästezimmer hat sie auch gleich eine zündende Idee. „Was du brauchst, ist eine kleine Vitrine zur Aufbewahrung und Präsentation. IKEA hat schöne und preiswerte Sachen. Vielleicht finden wir nachher auch für dich etwas Passendes.“

Gesagt, getan. Ich bin einverstanden und überredet. Heddas blauer Ford Kombi parkt ein paar Häuser weiter. Ich schnappe nur noch Jacke, Schlüsselbund und Geldtasche, und schon geht die Fahrt los. Wir überqueren die Weser und kurz darauf die Stadtgrenze. Weiter geht es Richtung Stuhr. Von Weitem leuchtet in gelben und blauen Farben das Logo des international bekannten Unternehmens und weist uns den Weg.  

Wir finden einen Platz auf dem unteren Parkdeck, dann geht es durch das Portal und über die schwingende Metalltreppe in das weitläufige Obergeschoss hinauf. Bis zu unseren Wunsch-Produkten, einem Rollcontainer und einer Vitrine, liegt erst einmal ein längerer und mit Pfeilen am Boden gut ausgewiesener Pfad vor uns, der für Ablenkung von unserem originären Bedarf sorgt. Gleich hinter dem Drehkreuz zieht ein roter Zweisitzer unsere Blicke auf sich. Form, Stoffbezug und Farbe stimmen, und auch über den unschlagbaren Preis von 69 Euro lässt sich nicht meckern. Das Sofa heißt Solsta Gylle. Wäre das nicht was für die Wieder-Inbetriebnahme meines Gästezimmers?! Wir machen eine Sitzprobe und springen gleich wieder auf. Solsta Gylle ist hart wie Beton. Seine Geschwister heißen Klippan, Klubbo und Klobo und bieten keinen besseren Sitz-Komfort. Und auch das Sessel-Duo Poäng, das wir im Weitergehen streifen und zu dem es die Polsterreinigung Absorb gibt, scheint keine brauchbare Alternative.

Das am Boden verlegte Laufband navigiert uns zielsicher durch die Schlafzimmer-Einrichtung mit den Bettgestellen Duken und Rekdal. Eine neue Generation von Schränkchen und Kommoden heißt Malm, gleich nebenan stapeln sich Matratzen mit dem höchsten Schlafkomfort verheißenden Namen Sultan. Wer es gern etwas dämmrig mag, findet hier die Jalousie Schottis. Rasch durchpflügen wir die Kombination für das Büro, dessen Mittelpunkt der Drehstuhl Torkel bildet. Papierkörbe namens Dokument und Sortierkästen Variera finden sich hier in Hülle und Fülle. Doch der im Prospekt beworbene und von Hedda dringend gesuchte Rollcontainer Bekant scheint hier leider unbekannt. Vergeblich suchen wir das Produkt auch in dem Jugendzimmer Diktad. Nebenan das Kinderzimmer Platsda mit dem Jonglierset Träning, mit Baby-Phon Patrull und Babyhandtuch Stänka.

Die Treppe hinunter geht es nun in das Zauberreich der tausendundein Accessoires. In der Lampen-Abteilung kann man zwischen den Leuchtsets Flamm, Blink und Glimt und der Standleuchte Uppbo wählen. Zu der Bad-Einrichtung Vättern gibt es passend das Toilettenset Viren mit der WC-Bürste Aften. Ein flauschig weiches Badetuch trägt den Namen Näckten. Der Wäschekorb heißt Fyllen, der Treteimer Plumps, das Bügelbrett Pressa. Neben der Gardinenstange Index liegen Stapel von Kleiderbügeln namens Bumerang. Und zwischen all diesen nützlichen Dingen finden sich auch weitere Behältnisse aller Art und Größe. Diese tragen Namen wie Kramfors, Knüll und Kremplin. Eine Hängeaufbewahrung kommt mit der schlichten Bezeichnung Hängst aus.

Hedda deckt sich im Vorbeigehen rasch mit einigen Päckchen der Servietten Enfalding ein, wählt dazu eine Packung Duftkerzen Sinnlig, einen Beutel Teelichter und vier Servierschüsseln Snäck für die geplante Hof-Party am Wochenende. Ein Sortiment dekorativer Flaschen ohne Verschluss firmiert unter dem Namen Korken. Für das Kücheninventar packt Hedda noch die Schüsseln Dinera und Myndik, sowie das Geschirrtuch Elly und das Schneidebrett Aptitlig ein. Die Bratpfanne Senior mit Pfannendeckel Stabil und Schaber Skruvstva lassen wir links liegen, und auch der Messerblock Duell kommt nicht in die großräumige blaue Kunststoff-Tagetasche, die IKEA zur Verfügung stellt.

Meterhoch stapeln sich im nächsten Gang die Bodenbeläge in unterschiedlichen Farben, Mustern und Größen. Hedda zieht aus einem Stapel Wollteppiche zwei ansehnliche Exemplare hervor. Kurz schwankt sie zwischen der moosig grünen Tundra und der sandig braunen Prärie, ehe sie Tundra den Vorzug gibt.  Und nun schwirre ich erst einmal aus, um einen Einkaufswagen für den rasch wachsenden Umfang unseres Spontankaufs zu besorgen. Damit geht es zügig weiter in die Stoffabteilung, wo ebenfalls in dieser Saison erdige Farben den Ton angeben. Hedda wählt einen bordeauxroten Stoff für Vorhänge, die sie demnächst nähen möchte. Sie wendet sich an eine gelb-blau Uniformierte, die gerade Stoffreste in Plastiktütchen einschweißt, und bittet sie, ihr vier Meter von dem Ballen abzuschneiden. Die Uniformierte darauf, ohne den Blick von ihrer Tätigkeit zu heben: „Das machen Sie bitte mal selbst.“ Hedda antwortet, wobei ihre Stimme fast einen flehenden Ton bekommt: „Das kann ich nicht.“ Darauf die Uniformierte, während sie ungerührt weiter schnippelt und einschweißt: „Do-och, das können Sie!“ Meine Freundin wird erst ein wenig blass um die Nase, dann beginnt ihr Gesicht mit dem bordeauxroten Ballen um die Wette zu glänzen, dann stößt sie gepresst und in meine Richtung gewandt hervor: „Wo ist der Ausgang? Ich muss hier raus.“

Ich fahre aus meiner Beobachtung auf. Jetzt nur rasch den Einkaufswagen geschnappt und nichts wie weg von hier. Aber wo zum Teufel ist unser Wagen? Ratlos lasse ich meine Blicke schweifen. Myriaden von Kunden ziehen karawanenartig an uns vorbei, ihre Wagen mit dem Gewürzregal Sanella, dem Pfannenschaber Skruvstva und dem Wäschesack Bulla beladen, mit Treteimer und Messerblock ausgerüstet. Allein unser Wagen mit der pastellfarbigen Tundra ist wie vom Erdboden verschluckt. Hedda knallt nach einem Moment des Zögerns Servietten und Teelichter auf die Näckten Badelaken, und so flüchten wir, befreit von Krempel und dem Behältnis Kremplin, durch die Abteilung Kleinmöbel, wo ich über den Tritthocker Klappstra stolpere und mir leise fluchend den Knöchel reibe.

„Rasch noch einen Blick in den Schnäppchenmarkt werfen“, bitte ich meine Freundin um Geduld und einen kleinen Umweg, während ich hinter ihr humple. Die IKEA-Resterampe heißt Fundgrube, und hier sehen wir das Sofa Solsta Gylle vom Beginn unserer Tour wieder. Einer Armlehne beraubt und mit einem Fleck auf der Sitzfläche, kostet es hier nur noch reduzierte 59 Euro. Die Polsterreinigung Absorb liegt als kostenlose Zugabe dabei. Wir inspizieren Regale, Schränke und Kommoden in diversen Farben und Größen, unterschiedlich ramponiert. Ein Rollcontainer Bekant, den Hedda inzwischen auch mit nur vier Schubfächern statt der fünf inserierten Fächer akzeptieren würde, befindet sich nicht darunter. Doch plötzlich, als wir uns eben von der ganzen zu uns sprechenden Warenwelt verabschieden wollen, hat meine Freundin mein geheimes Wunschobjekt entdeckt. Es ist eine wunderschöne gläserne Vitrine mit schwarz glänzendem Metallgehäuse und eingebauter Innenbeleuchtung. Detolf heißt das dekorative Einzelstück. Weil der Tür-Knauf und ein Einlegeboden fehlen, wurde es preisgünstig von 120 auf 90 Euro reduziert. Sofort entsteht vor meinem inneren Auge ein Bild, und ich sehe die Vitrine in meinem Wohnzimmer, das durch Detolf zum Salon geadelt wird, ausgestattet mit  hübschen kleinen Andenken und einem Schild für den Betrachter: „Schöne Dinge aus Nippon“. – „Glückwunsch“, freut sich Hedda mit mir über das Schnäppchen, wodurch unsere Einkaufstour zuletzt doch noch vom Erfolg gekrönt wird.

Vorsichtig heben wir die Vitrine an und tragen sie stolz in den Kassenbereich hinüber, wo wir uns in die Schlange der Kunden einfädeln. Vor uns schiebt ein Herr einen Wagen mit einem moosigen Tundra-Teppich und einer Packung Sinnlig Duftkerzen, aber das interessiert uns nicht wirklich, denn wir haben ja Detolf gefunden.

Gegen ein Uhr mittags treffen wir wieder zu Hause ein. Während Hedda den Kombi einparkt, laufe ich schon einmal voraus und schließe die Eingangstür auf. Im Hausflur kommen mir mein Sohn Ibrahim und sein Freund Roman mit einer voll gepackten Tasche und einem bunt beklebten Karton entgegen. „Wir machen einen Flohmarkt auf dem Schulhof“, verkündet Roman begeistert, und Ibrahim strahlt: „Danke, Mama; toll, dass du die Sachen von den Japanern nicht weggetan hast.“ Während ich etwas verdutzt im Weg stehe, fassen die Jungs noch rasch mit an und helfen Hedda, die Vitrine über ein paar Stufen hinweg ins Wohnzimmer zu befördern. Befriedigt stelle ich fest, dass sie sich In der Nische neben dem großen Fenster zum Hof recht ansprechend macht. „Schönes Möbel“, lobt Ibrahim die Wahl, und Roman ergänzt: „Jetzt fehlen noch ein paar Kleinigkeiten für die Ausstattung.“ Dann packen die beiden wieder ihre Ausbeute und verabschieden sich zum Schulhof-Flohmarkt.